Winterreise

Immer wieder haben wir uns in den letzten Jahren mit Franz Schuberts ,Winterreise‘ beschäftigt, haben zuerst einzelne Lieder, dann den gesamten Zyklus studiert. Und immer wieder haben wir die Entscheidung vor uns hergeschoben, dieses unvergleichliche, berühmte Werk einmal vor Publikum zu präsentieren – bis zum März des vergangenen Jahres. Eine Generalprobe bei Freunden ging voraus, dann folgten zwei Hauskonzerte in der Kastanienallee. Die Resonanz unseres Publikums war wunderbar, berührend und ermutigend zugleich. So ermutigend, dass wir einige Monate danach in das professionelle Studio eines befreundeten Tontechnikers, mit Blick über die Dächer von Friedrichshain, gegangen sind, um dort in zwei Tagen und jeweils mehrstündigen, intensiven Sitzungen zwölf der insgesamt 24 ,Winterreise‘-Lieder aufzunehmen.

 Für uns waren diese vielen Proben über Monate hinweg, die Konzerte und die Aufnahmesitzungen ein großes Geschenk, um tief in die poetisch-musikalische Welt von Wilhelm Müller und Franz Schubert einzudringen. Wir haben erfahren, wie unmittelbar und erstaunlich frisch Müllers ungekünstelte Verse auch nach 200 Jahren noch auf uns wirken. Und wie Schuberts geniale musikalische Eingebung diese Verse zu einem Kosmos menschlicher Emotionen erweitert, in dem Trauer und Schmerz, Wehmut und Erbitterung, Resignation und Trotz gleichermaßen ihren Platz gefunden haben. Doch so groß diese Emotionen auch ausfallen: Schuberts Musik wirkt nie, in keinem einzigen Takt, kitschig, sondern sie ist echt und wahrhaftig. Und sie geht immer direkt zu Herzen.

 Und so hoffen auch wir, dass unsere Aufnahme direkt zu Herzen geht – als Erinnerung für diejenigen, die bei dem Live-Erlebnis dabei waren, genauso wie für diejenigen, die wenigstens auf diesem Wege an unserer ,Winterreise‘ teilhaben können.“

Michael & Jörg

Schuberts „Winterreise“ – Anmerkungen zu einem einzigartigen Werk

Es ist fast genau 200 Jahre her, dass die Gedichte von Wilhelm Müller (1794-1827) veröffentlicht wurden: die erste Gruppe 1823, die zweite ein Jahr später. Und auch Schubert vertonte – im Nachhinein eine erstaunliche Erkenntnis – die 24 Lieder in zwei Portionen. Als er die erste Gedichtgruppe im Frühjahr 1827 in dem Almanach „Urania“ entdeckte, machte er sich sofort an die Arbeit; der zweite Teil folgte dann im Herbst desselben Jahres. Die Drucklegung des gesamten Zyklus hat Schubert nicht mehr erlebt; er starb, nachdem er die letzten Korrekturen noch fertigstellen konnte, im Dezember 1828. Und auch Wilhelm Müller hat davon nichts mehr erfahren können; er war, ebenfalls viel zu früh, schon 1827 in seiner Geburtsstadt Dessau/Elbe gestorben.

 Die „Winterreise“ beschreibt die Stationen einer Lebensreise, die mit einem Abschied beginnt: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“ Das geliebte Mädchen hat dem Mann den Laufpass gegeben, um einen anderen zu heiraten – warum, bleibt dabei offen. Somit macht sich der Enttäuschte auf den Weg und findet überall in der Natur sein Seelenleben widergespiegelt; der Winter mit all seinen Facetten wird zur Metapher für die vereiste Seele: der Schnee, der zugefrorene Fluss, der Rauhreif, die Eiszapfen, die Eisblumen…

 Im zweiten Teil geht der konkrete Bezug zu der verlorenen Liebe immer mehr verloren, stattdessen macht sich eine Entfremdung und Isolierung des Wanderers von seiner Umgebung breit. Die Perspektive wechselt vom Außen zum Innen, von einer realen in eine oftmals surreale Welt, in der Albträume und Fantasmagorien das Denken und Fühlen des Wanderers beherrschen – lange vor der „Entdeckung“ der Psychoanalyse! Am Ende steht die Begegnung mit dem „Leiermann“, einem Außenseiter wie er: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ Wer ist dieser Leiermann? Auch nur eine Vision? Somit steht ein doppeltes Fragezeichen am Ende: Seine „Winterreise“ lässt Schubert auf diese einzigartige Weise ausklingen.